
Ohne Unterstützung geht es nicht
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Seit Beginn der Pandemie ist für die Schüler*innen in Deutschland fast ein halbes Jahr Präsenzunterricht ausgefallen. Das hat nicht nur für Lernrückstände gesorgt, auch die Auswirkungen auf das Lern- und Sozialverhalten sind groß. Welche das sind, davon berichten Bildungsforscher Prof. Klaus Hurrelmann sowie die Grundschullehrerinnen Annika Schmitz und Sarah Henning.
Schulschließungen, Homeschooling, Wechselunterricht unter strengen Hygienevorschriften: Hinter den Kindern und Jugendlichen in Deutschland liegen zweieinhalb Pandemiejahre, in denen Schule alles andere als normal war. Das hat Spuren hinterlassen, die nicht nur den Lernstoff betreffen. „Als wir nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 in die Schule zurückgekehrt sind, ist uns als Erstes aufgefallen, dass die meisten Schüler*innen deutlich unselbstständiger waren als zuvor“, berichtet Grundschullehrerin Annika Schmitz von der Jungferntal-Grundschule in Dortmund. „Sie brauchten fast überall Unterstützung und waren nicht in der Lage, sich in Aufgaben reinzufuchsen, die sie nicht auf Anhieb verstanden. Stattdessen warfen sie sofort die Flinte ins Korn, wenn sie nicht weiterkamen.“ Ihre Kollegin Sarah Henning kann das bestätigen: „Nicht alle Eltern konnten während des Lockdowns ihre Kinder zu Hause beim Lernen unterstützen. Und die, die es konnten, haben den Kindern oft zu viel abgenommen. Manchmal wusste ich beim Durchsehen der Aufgaben nicht, von wem die Lösung stammte – von den Kindern oder ihren Eltern“, berichtet die Grundschullehrerin, die ebenso wie Annika Schmitz eine vierte Klasse unterrichtet.
Ständiges Alleinsein
Für viele Eltern war die Doppelbelastung aus Arbeit und Homeschooling kaum zu stemmen. „Als wir während des ersten Lockdowns Lernpakete verteilten, hatten wir mehrfach weinende Eltern am Fenster stehen, die mit der Situation überfordert waren“, erzählt Annika Schmitz. Manche ihrer Schüler*innen mussten während der Schulschließungen alleine mit älteren Geschwistern zu Hause bleiben oder ihre Eltern zur Arbeit begleiten. Nicht alle Familien waren für die Lehrerinnen in dieser Zeit überhaupt erreichbar. Und durch das ständige Alleinsein und den Wegfall der Alltagsstruktur war ein Teil der Kinder in dieser Zeit so stark psychisch belastet, dass die Schule sie in die Notbetreuung vor Ort holte, um ihnen zumindest ein Stück weit Normalität zu ermöglichen.

Verändertes Verhalten im Unterricht
Nach ihrer Rückkehr in den Klassenraum wurde für die Lehrerinnen schnell deutlich, wie sehr sich die Kinder verändert hatten. „An ihrem Verhalten haben wir gemerkt, dass sie es nicht mehr gewohnt waren, in Gruppen zu arbeiten, sich zu gedulden, wenn sie noch nicht an der Reihe waren, oder andere ausreden zu lassen“, sagt Annika Schmitz. Das erschwerte das Vermitteln des Lernstoffs, der in den Wochen zuvor ohnehin zu kurz gekommen war. Studien belegen, dass bei einem Großteil der Kinder infolge der Coronapandemie enorme Defizite in allen Fächern entstanden sind. So zeigt unter anderem der IQB-Bildungstrend1 2021 des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) im Auftrag der Kultusministerkonferenz (KMK), dass die Schulschließungen und Unterrichtseinschränkungen in der Coronazeit die Schüler*innen in Deutschland in ihrem Lernerfolg erheblich zurückgeworfen haben. Das Gleiche gilt für ihre soziale Entwicklung. „Viele Kinder haben während dieser Zeit verlernt, welche Regeln im sozialen Umgang gelten. Ihnen fehlt das Training im Umgang mit Konflikten, sie haben den sozialen Rhythmus verloren“, sagt Bildungs- und Jugendforscher Prof. Klaus Hurrelmann. Psychische Belastungen, auch bei jüngeren Kindern, haben zugenommen. „Das ist nicht verwunderlich, denn die Einschnitte, die sie in Bezug auf Schulbildung, Sozialkontakte und Freizeitverhalten erfahren haben, waren enorm.“
Im Eiltempo durch den Lehrplan
Obwohl die Lehrkräfte der Jungferntal-Grundschule nach kurzer Zeit mit Online-Unterricht starteten, spüren sie die Folgen der Schulschließungen bis heute. „Was die Abläufe und das Lernverhalten angeht, hat sich vieles gebessert, und die Kinder haben sich wieder in den Schulalltag eingelebt“, so Sarah Henning. Doch sind aus Sicht von Annika Schmitz viele Lerninhalte zu kurz gekommen: „In allen Fächern konnten wir uns nur auf das Wesentliche konzentrieren. In Deutsch beispielsweise haben wir vieles im Eiltempo durchgenommen, hätten aber gerne mehr Zeit gehabt, um Themen öfter zu wiederholen oder mal ein zusätzliches Projekt wie die Lektüre eines Buches anzubieten.“

Nachholbedarf in allen Bereichen
Laut Klaus Hurrelmann sei es nun am wichtigsten, den Kindern und Jugendlichen ihre Selbstkontrolle zurückzugeben. „In den letzten zweieinhalb Jahren waren sie sehr häufig fremdbestimmt“, so der Bildungsforscher. „Jetzt geht es darum, nicht nur den Lernstoff aufzuarbeiten, sondern in allen Bereichen, die für die Entwicklung wichtig sind, nachzuholen, was in dieser Zeit nicht oder nur eingeschränkt möglich war.“ Ein weiterer negativer Effekt der Pandemie: Die Schere zwischen leistungsstarken und leistungsschwächeren Schüler*innen ist größer geworden. „Bei den Kindern, die vorher bereits Schwierigkeiten mit dem Unterrichtsstoff hatten, merkt man jetzt noch größere Unterschiede, sie sind noch weiter abgeschlagen“, sagt Grundschullehrerin Sarah Henning. Die Lehrerinnen erstellen deshalb individuelle Lernpläne für jedes Kind, angepasst an den jeweiligen Leistungsstand. „Diejenigen, die bereits vorher strukturell benachteiligt waren, weil zum Beispiel im Elternhaus kein hoher Bildungsstand vorhanden ist oder die Eltern krank sind, haben es jetzt noch schwerer. Wir gehen davon aus, dass fast ein Drittel der Kinder und Jugendlichen weniger leistungsfähig ist als vorher“, so Soziologe Klaus Hurrelmann. Doch mit umfassenden pädagogischen Konzepten könne zumindest einem Teil dieser Kinder geholfen werden, auf ihren ursprünglichen Bildungsweg zurückzukehren.

Wertvolle Unterstützung durch Lernbegleiter*innen
Ein paar positive Effekte hat die Pandemie auch hervorgebracht: Fast ein Drittel der Kinder ist durch die Krise selbstständiger und digital kompetenter geworden. „Von denjenigen, die zu Hause eine Eins-zu-eins-Betreuung durch die Eltern hatten, sind einige besser organisiert in die Schule zurückgekommen. Manche von ihnen haben sich im Lesen verbessert, oder ihr Schriftbild ist schöner geworden“, berichtet Grundschullehrerin Annika Schmitz. Aufgrund der enormen Leistungsunterschiede sind sie und ihre Kollegin Sarah Henning froh, seit Beginn des Jahres 2022 von den Lernbegleiter*innen von students@school unterstützt zu werden. „Die Studentinnen sind sehr engagiert und wurden auf Anhieb von den Schüler*innen vollumfänglich akzeptiert. Man hat richtig gemerkt, wie die Kinder sich nach dieser anstrengenden Zeit nach Unterstützung sehnen“, erläutert Annika Schmitz. „Als Lehrerin habe ich nicht die Möglichkeit, mich 20 Minuten in Ruhe neben ein Kind zu setzen und ihm etwas zu erklären, ohne dass 21 Mitschüler*innen währenddessen etwas von mir wollen. Deshalb ist die Arbeit der Studierenden so wertvoll.“ Die drei Lernbegleiterinnen an der Jungferntal-Grundschule unterstützen die Schüler*innen auch, indem sie mit ihnen in Kleingruppen an ihren individuellen Lernplänen arbeiten. „Und wenn ich mal einen Streit schlichten muss, ist unsere Lernbegleiterin da und sorgt dafür, dass die Klasse nicht zu unruhig wird.“